Betrunkener Geschäftsmann

Der Tatbestand der Übervorteilung ist eine Kombination zwischen einem Inhalts- und einem Willensmangel (BGE 84 II 113). Falls die drei kumulativen Voraussetzungen des offenbaren Missverhältnisses, der Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit sowie der Ausbeutung der Übervorteilungsmöglichkeit erfüllt sind, kann der Übervorteilte den Wuchervertrag innert Jahresfrist anfechten und für unverbindlich erklären lassen. Bei der Übervorteilung ist auf einige prozessuale Besonderheiten zu achten. 

Grundsatz

Zwischen den vereinbarten Leistungen im Vertrag muss zu Lasten des Übervorteilen ein offenbares Missverhältnis bestehen (BGE 123 III 301). Als offenbar gilt ein Missverständnis dann, wenn das Ungleichgewicht der ausgetauschten Leistungen „jedermann in die Augen fallen“ (BGE 53 II 488). Um die Frage nach dem Ungleichgewicht beantworten zu können, hat der Richter sein freies Ermessen (Art. 4 ZGB) anzuwenden und alle Vertragsumstände zu würdigen. In Ausführung seines Ermessen wägt er den Wert aller Leistungen sowie die Rechte und Pflichten beider Vertragspartner gegeneinander ab (Berner Kommentar, Kramer, N 18).

Bewertung

Grundsatz

Als objektiver Wert gilt der Markt- oder Börsenpreis zum Zeitpunkt des Vertragsschluss (BGE 123 III 301).

Dienstleistungen

Dienstleistungen sind mit dem üblichen Entgelt zu bewerten. Bestehen kein übliches Entgelt in Form eines Marktpreises, so muss der Richter andere Kriterien heranziehen, wie bspw. den Leistungsaufwand mit einem angemessenen Profitzuschlag abgelten (analog Cost-Plus-Method im Transfer Pricing) oder den Preis einer vergleichbaren Leistung zur Hand nehmen (Die Übervorteilung – Bemerkungen zu Art. 21 OR, Gauch, recht 1989, 95).

Gerichtliche Beispiele

Das Bundesgericht hat in folgenden Fällen ein offenbares Missverhältnis bejaht:

  • Zinssatz von 26% für ein Darlehen (BGE 93 II 191);
  • Jahresmiete eines Fussballplatzes von mehr als 200% über dem Marktwert (BGE 123 III 303);
  • Kauf einer Liegenschaft für den doppelten Versicherungswert (BGE 84 II 111 f.). 

Grundsatz

Damit eine Übervorteilung angenommen werden kann, muss eine subjektive Ausnahmesituation vorliegen, welche ein freies Aushandeln der Vertragsbedingungen ausschliesst und deshalb den Übervorteilten zu aussergewöhnlichen Entschlüssen führt (Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil ohne Deliktsrecht, Bucher, 1988, 232 f.).

Situationen

Gesetzliche Situationen

Das Gesetz nennt drei mögliche Situationen (Art. 21 OR), bei denen eine solche Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit vorliegt:

  • Notlage
  • Unerfahrenheit
  • Leichtsinn

Weitere Situationen

Diese Aufzählung ist jedoch nur exemplarisch zu verstehen (Die Übervorteilung – Bemerkungen zu Art. 21 OR, Gauch, recht 1989, 97), weshalb bspw. eine Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit auch durch Alkohol, Medikamente, Drogen, Erschöpfung, Überraschung, Abhängigkeiten oder mangelndes Urteilsvermögen (nicht zu verwechseln mit der mangelnden Urteilsfähigkeit) entstehen kann (Die Übervorteilung – Bemerkungen zu Art. 21 OR, Gauch, recht 1989, 97).

Verschulden

Ein allfälliges Selbstverschuden an der Schwächesituation ist unerheblich (Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, von Tuhr/Peter, 1979, 344).

Notlage

Als Notlage wird bezeichnet, wenn sich eine Partei zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses in einer individuellen Zwangslage oder starker Bedrängnis befindet (Die Übervorteilung – Bemerkungen zu Art. 21 OR, Gauch, recht 1989, 96), weshalb diese Partei den Abschluss des für sie unvorteilhaften Vertrags als kleineres Übel betrachtet, als der Nachteil, den sie aus der Realisierung der Notlage befürchtet (Die Übervorteilung – Bemerkungen zu Art. 21 OR, Gauch, recht 1989, 96). Solche Notlagen können wirtschaftlicher (BGE 84 II 110), persönlicher, familiärer oder politischer Natur sein (BGE 123 III 301), wobei es ausreicht, dass der Bedrängte denken muss, dass er sich in einer solchen (imaginären) Notlage befindet (Die Übervorteilung – Bemerkungen zu Art. 21 OR, Gauch, recht 1989, 62).

Unerfahrenheit

Kann eine Partei die Tragweite und Bedeutung eines konkreten Vertrags nicht richtig einschätzen (BGE 92 II 175 f.), was auf einen Mangel an Kenntnissen zurückzuführen ist (Willensbildung, Beeinflussung und Vertragsschluss, Knoepfel-Kunz, 1989, 293 f.), so wird Unerfahrenheit angenommen, was jedoch nicht mit allgemeiner Unfähigkeit, ein Geschäft angemessen zu würdigen (BGE 85 II 413) zu verwechseln ist. Wer aufgrund seiner beruflichen Stellung jedoch nicht unerfahren sein durfte, darf sich nicht auf die Übervorteilung berufen (Berner Kommentar, Kramer N 44 ff.). 

Leichtsinn

Als Leichtsinn wird nicht eine pathologische Veranlagung, sondern ein konkreter Mangel an Vorsicht, welche angebracht gewesen wäre, verstanden (BSK OR I, Huguenin, 2011, Art. 21 N 13). 

Als finales Moment (BGE 123 III 305) muss die Gegenpartei die Entscheidungsschwäche mit vollem Bewusstsein ausgenutzt haben, um dadurch den Vertrag mit dem Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung abzuschliessen (Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil ohne Deliktsrecht, Bucher, 1988, 234 FN 25). Es liegt jedoch ein Lehrstreit vor, in welchem Umfang die Aktivität der übervorteilenden Partei stattfinden muss. Während Kramer (Berner Kommentar, Kramer, N 33) bereits von der Wahrnehmung der günstigen Gelegenheit zum Vertragsabschluss ausgeht, geht Bucher (Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil ohne Deliktsrecht, Bucher, 1988, 233) davon aus, das die Herbeiführung des Vertragsschlusses erforderlich ist. 

Parteien

Sowohl natürliche Personen als auch juristische Personen können sich auf die Übervorteilung berufen (BGE 123 III 301).

Einseitige Unverbindlichkeit

Liegt eine Übervorteilung vor, so besteht die Rechtsfolge in der einseitigen Unverbindlichkeit zugunsten des Übervorteilten (Berner Kommentar, Kramer, N 46 ff.). Der Übervorteilte muss innert Jahresfrist erklären, dass er den Vertrag nicht halten will. In der Schweiz wird dabei der Ungültigkeitstheorie den Vorzug gegeben (BGE 114 II 143), wonach der Vertrag von Anfang an ungültig war, sich der Übervorteilte aber fristgerecht darauf berufen muss. Läuft diese Jahresfrist ungenutzt ab, so gilt der Vertrag als geheilt, bzw. als genehmigt (Art. 21 Abs. 2 OR).

Teilunverbindlichkeit

Bei teilweiser Ungültigkeit kann der Übervorteile die teilweise Unverbindlichkeit des Vertrages verlangen und somit den Fortbestand des Vertrages mit geändertem Inhalt beanspruchen (BGE 123 III 292 ff.). Die Anwendung der Teilunverbindlichkeit wird aus dem Artikel zur Nichtigkeit (Art. 20 Abs. 2 OR) abgeleitet (Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, 2008, N 754 f.). Die wucherische Leistungsverpflichtung soll dabei auf das marktübliche Durchschnittsentgelt (Art. 20 Abs. 1 OR, siehe: Berner Kommentar, Kramer, N 52) und nicht auf das noch zulässige Mass reduziert werden (Art. 20 Abs. 2 OR). (BSK OR I, Huguenin, 2011, Art. 21 N 16)

Rückabwicklung

Wurde bereits erfüllt, so können diese Leistungen vindiziert (Art. 641 Abs. 2 ZGB) oder kondiziert (Art. 62 ff. OR) werden. Obwohl das Gesetz (Art. 21 Abs. 1 OR) das Rückabwicklungsrecht explizit dem Übervorteilten zuspricht, ist gemäss der normzweckorientierten Auslegung der Rückabwicklungsregeln (Nichtigkeit und Unverbindlichkeit als Folgen anfänglicher Vertragsmängel, Huguenin, 1984, 93) dieses Recht auch dem Übervorteilenden zuzusprechen (BGE 92 II 179). Im Speziellen ist darauf hinzuweisen, dass der Entreicherungseinwand (Art. 64 OR) nur dem Übervorteilten offensteht (Berner Kommentar, Kramer, N 59).

Schadenersatz

Der Anspruch auf Schadenersatz beruht auf einer Verletzung der vorvertraglichen Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme (sog. culpa in contrahendo). Mit dem Schadenersatz wird das negative Interesse (Vertrauensschaden) geltend gemacht (Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Koller, 2009, § 14 N 196). 

Beweislast

Die Beweislast für das Vorliegen aller drei Voraussetzungen liegt beim Übervorteilten (Art. 8 ZGB).

Gericht

Ob ein offenbares Missverhältnis vorliegt, ist eine Rechtsfrage (BGE 61 II 34), welche der Richter nach freiem Ermessen entscheiden kann (BGE 109 II 347).

Bundesgericht

Wird eine Klage wegen Übervorteilung vor Bundesgericht gezogen, so ist dieses an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz gebunden, aus welchen sich das offensichtliche Missverhältnis ableitet (BGE 46 II 60). 

Frau Meier ist Alkoholikerin und meistens schon recht früh betrunken. Ihr Nachbar, Herr Meier, weiss um diese Schwäche und verkauft ihr sein Auto zu einem massiv überteuerten Preis, als Frau Meier wieder einmal stark betrunken war. Das offenbare Missverhältnis ist durch den übersetzten Preis gegeben, die Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit durch den alkoholisierten Zustand und die Ausbeutung ist durch den Abschluss des Vertrages mit vollem Bewusstsein durch Herrn Meier gegeben. Falls Frau Meier das Auto trotzdem behalten möchte, kann sie Teilunverbindlichkeit geltend machen und den Preis auf das übliche Mass herabsetzen lassen. 

Falls die drei kumulativen Voraussetzungen des offenbaren Missverhältnisses, der Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit sowie der Ausbeutung der Übervorteilungsmöglichkeit erfüllt sind, liegt eine Übervorteilung vor. Der Übervorteilte kann den Wuchervertrag innert Jahresfrist anfechten und für unverbindlich erklären lassen. Er trägt die Beweislast für das Vorliegen aller Voraussetzungen. 

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