Kopfschmerzen im Bahnverkehr
Nach Art. 335d OR liegt eine Massenentlassung vor, wenn der Arbeitgeberbetrieb innert 30 Tagen eine gewisse Anzahl Kündigungen aus wirtschaftlichen Gründen ausspricht:
- mindestens 10 Kündigungen in Betrieben mit 20 bis 100 Angestellten,
- mindestens 10 Prozent der Arbeitnehmer werden entlassen in Betrieben mit 100 bis 300 Mitarbeitenden, oder
- mindestens 30 Kündigungen in Betrieben mit mindestens 300 Angestellten.
Werden Arbeitsverträge wegen mangelhafter Leistung oder schlechten Verhaltens des Arbeitnehmers beendet oder kündigt ein Mitarbeitender, ist dies nicht relevant. Weiter ist die Anzahl der ausgesprochenen Entlassungen innert 30 Tagen entscheidend; hingegen ist nicht massgeblich, in welchem Zeitraum die Arbeitsverhältnisse enden werden.
Überlegt sich das Unternehmen einen Stellenabbau dieses Ausmasses, so muss die Firma zwingend vorher die Arbeitnehmervertretung oder – falls es keine Arbeitnehmervertretung im Betrieb gibt – direkt die Arbeitnehmer konsultieren. Den Betroffenen muss die Möglichkeit eingeräumt werden, Massnahmen vorzuschlagen, wie alle oder zumindest ein Teil der Kündigungen verhindert und die Folgen von nicht vermeidbaren Entlassungen gemildert werden können. Die Firma muss hierzu genügend Bedenkzeit einräumen und die Umsetzung der Vorschläge der Arbeitnehmerseite ernsthaft prüfen. Die Konsultation der Arbeitnehmervertretung muss also noch während der Entscheidfindung der Unternehmensführung stattfinden, bevor der (endgültige) Entscheid zur Massenentlassung getroffen wird. Andernfalls wäre die Konsultationspflicht der Betroffenen ein zahnloser Tiger.
Zudem hat der Arbeitgeber die Pflicht, dem kantonalen Arbeitsamt die geplante Massenentlassung schriftlich mitzuteilen. Die Behörden versuchen zwischen den Mitarbeitenden und den Verantwortlichen der Firma zu vermitteln, Massnahmen im Betrieb zur Vermeidung von Kündigungen zu erarbeiten und bei nicht vermeidbaren Entlassungen deren Folgen zu mildern und den Betroffenen möglichst neue Stellen in anderen Firmen zu vermitteln.
Der Gesetzgeber versucht mit Verfahrensbestimmungen Massenentlassungen möglichst zu vermeiden und Arbeitsplätze zu erhalten, oder, wenn Kündigungen unumgänglich sind um die Existenz des Unternehmens weiterhin sicher zu stellen, zumindest die Folgen des Stellenabbaus zu mindern. Hierfür ist im Obligationenrecht ein für die Firma zwingend einzuhaltendes Verfahren mit einer Konsultationspflicht der Arbeitnehmer und einer Mitteilungspflicht an das kantonale Arbeitsamt vorgesehen. Diese Vorkehrungen sollen den einzelnen Arbeitnehmer darin schützen, dass die beabsichtigte Beendigung (auch) seines Anstellungsverhältnisses möglichst vermieden wird oder er zumindest eine neue Arbeitsstelle angeboten erhält.
Der einzelne Arbeitnehmer muss sich hingegen Folgendes bewusst sein: Bei Verstoss gegen die – wenn auch zwingenden – Verfahrensvorschriften sind die ausgesprochenen Kündigungen trotzdem wirksam und gültig. Das Anstellungsverhältnis des Betroffenen endet definitiv. Die Kündigung ist jedoch missbräulich und der Entlassene kann gegen die Firma eine Entschädigung in der Höhe von maximal zwei Monatslöhnen geltend machen (Art. 336 Abs. 2 lit. c OR und Art. 336a Abs. 3 OR).
Der vom Gesetzgeber vorgesehene Sozialschutz, um Massenentlassungen möglichst zu verhindern oder zumindest deren Folgen zu reduzieren, ist wirtschaftspolitisch unverzichtbar. Der Arbeitsmarkt soll vor einem umfangreichen Stellenabbau in einem Unternehmen und vor einer Flut entlassener Angestellter innert kurzer Zeit geschützt werden. Die Vorteile für den einzelnen Arbeitnehmer liegen auf der Hand: Bestenfalls gelingt es seinen Arbeitsplatz zu erhalten, allfällig kann zumindest eine neue Arbeitsstelle vermittelt werden.
Trotzdem mag dem betroffenen Angestellten der Nutzen der Gesetzgebung im konkreten Einzelfall fraglich erscheinen: Der einzelne Mitarbeitende hat kaum eine Möglichkeit, direkt auf die Entscheidfindung der Betriebsführung zur Massenentlassung im Allgemeinen und zur Aufhebung seines Arbeitsplatzes im Speziellen Einfluss zu nehmen. Auch kann er sich gegen die Beendigung seines Arbeitsvertrages rechtlich nicht zur Wehr setzen, denn die im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochene Kündigung ist im Grundsatz zulässig und rechtswirksam. Sogar wenn das Unternehmen die (zwingenden) Vorschriften nicht einhält, ist die ausgesprochene Kündigung gültig, was für einen Entlassenen kaum nachvollziehbar und in hohem Masse frustrierend sein dürfte. Dass der Gekündigte bei Nichteinhaltung der Verfahrensvorschriften einen Anspruch auf zwei Monatslöhne Entschädigung geltend machen kann, dürfte für ihn ein schwacher Trost sein; vor allem wenn er die Erfahrung machen muss, dass die (rechtliche) Geltendmachung solcher Ansprüche meist mit einem nicht unbedeutenden Aufwand an Zeit, Geld und Nerven verbunden ist.
Der Gesetzgeber schreibt den Unternehmen ein Verfahren vor, welches diese zwingend einzuhalten haben, sobald eine bestimmte Anzahl Kündigungen innert einer kurzen Zeitdauer beabsichtigt ist. Ziel soll sein, Lösungen zu finden, um sämtliche oder zumindest ein Teil der Arbeitsplätze zu erhalten. Die Grenze findet der im Gesetz vorgesehene sozialpolitische Arbeitnehmerschutz darin, dass sich der einzelne Angestellte kaum gegen die beabsichtigte Beendigung seines Anstellungsverhältnisses zur Wehr setzen kann. Durchschreitet die Firma das für Massenentlassungen vorgesehene Verfahren, sind die trotzdem ausgesprochenen Kündigungen rechtmässig und die Angestellten stehen auf der Strasse. Selbst wenn der Betrieb die eigentlich zwingenden Verfahrensvorschriften verletzt, sind die Kündigungen wirksam, was für den Betroffenen frustrierend und unverständlich ist. Wenn auch diesfalls die Kündigungen missbräuchlich und entschädigungspflichtig sind, erscheint es fraglich, inwiefern die mögliche Geltendmachung einer Entschädigung durch einen Entlassenen in der Höhe von gerade mal zwei Monatslöhnen tatsächlich geeignet ist, die Unternehmen anzuhalten, die Verfahrensvorschriften einzuhalten. Die Autorin zumindest bezweifelt dies.
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